Freitag, 14. Oktober 2016

Ich warte (weiter)

Hello, bonjour, guten Tag! Hier hinterlässt eine Dolmetscherin ihre Rand­be­mer­kun­gen aus dem sprachbetonten Arbeitsalltag. Meine Arbeitssprachen sind Fran­zö­sich, Deutsch (beides sehr aktiv) und Englisch (nur Ausgangssprache). Ich arbeite in Paris, Berlin, München, Marseille und überall dort, wo Sie mich brauchen.

In der ersten Reihe
Ich hab's gewagt! Ich habe ei­nen der klassischen  Dol­met­scher­wit­ze untergebracht, um eine Situation  aufzutauen.

Wir sind in einem Kon­gress­zent­rum oder Hotel oder Grün­der­zent­rum, eine junge Frau, die erst seit einigen Jahren berufstätig ist, hält einen hochkomplexen Vor­trag, der ihr erster ver­dol­metsch­ter Vortrag ist.

Ich bin als einzige Dolmetscherin gebucht und sitze, da wir gleich zu Be­triebs­be­sich­ti­gun­gen aufbrechen werden, mit einer mobilen Anlage (ohne Kabine drum­he­rum) seitlich am Podium.

Die Vortragende gliedert ihre Präsentation in zwei Einheiten zu je 20 Minuten, zwischendurch gibt es kurze Kaffeepausen, eine Frage- und Antwortrunde sowie einen untertitelten Film, so dass das müde Dolmetschhirn immer wieder zu seinen Pausen kommt. Die Delegationsgruppe aus Ingenieurinnen, Stadtverordneten, Tech­nik­dienst­leis­te­rin­nen und Politikern kenne ich noch nicht, wir treffen gleich­zei­tig am Austragungsort ein. Die Stimmung ist leicht angespannt, denn das Team war infolge erhöhter Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen mit großer Verspätung gestartet, in zwei Flugzeugen statt wie geplant in einem.

Die junge Rednerin legt los, sie spricht wie gedruckt und liest zum Teil ab, hat ihre Präsentationen großenteils auswendig gelernt und verbindet grammatikalische Ver­schach­te­lun­gen mit verbalen MG-Salven. Noch dazu handelt es sich um einen sehr komplexen Stoff, es geht um Klimatechnik, Energieeinsparung, Elektromobilität und Fragen der Niedrigenergiearchitektur.

Einmal reiht sie so Nebensatz an Nebensatz, setzt immer wieder höchst akkurat ein Schäch­tel­chen in das nächste; ich höre staunend zu und ahne noch nicht, auf welches Verb das alles hinauslaufen soll, was der Sinn ihrer beeindruckenden Kons­truk­tio­n sein wird. Ich sitze also da und lausche. Warten scheint neuerdings zu den Kernaufgaben des Metiers zu gehören. In den hinteren Reihen beginnen die ersten, an ih­ren Empfangsgeräten zu drehen, um zu prüfen, ob sie noch funktionieren. In der mittleren Reihe schauen die ersten in meine Richtung, und aus der allerersten Reihe spricht mich, die ich neben der Leinwand sitze, die Veranstalterin an und fragt auf Französisch: „Haben Sie ein Problem?"

Ich lächele bittersüß und zucke ein wenig zu komödiantisch mit den Achseln. Dann sage ich: "Ich warte auf das Verb!" Noch eine leicht entschuldigende Geste nach vor­ne, Richtung Rednerin, alle lachen, die Vortragende auch. Die junge Frau hat Hu­mor, was ich beim Kennenlernen schon feststellen dufte, sonst hätte ich mich das nicht getraut. Die Sache geht gut aus: Das Eis ist gebrochen, und auch das Publikum ist von da ab viel ent­spann­ter.

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Foto: C.E. (eine andere Rednerin)

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