Donnerstag, 5. Juni 2014

Mal wieder: Faktor Zeit

Will­­kom­­men, bien­­ve­­nue & hel­lo beim ersten deut­­schen Web­­log aus dem In­­ne­­ren der Dol­­met­­scher­­ka­­bine. Hier denke ich über unsere Arbeit nach.

Leseecke mit gemütlichen Sitzgelegenheiten, vielen Büchern im eingebauten Holzregal, angeschnitten ein Kamin
Leseidylle
"Wie machen Sie das nur? Sie wussten ja, was ich sagen wollte, noch ehe ich fer­tig­ge­spro­chen hatte?" Das war der Eindruck eines meiner Kunden vorgestern. Diesen Satz kennen wir in allen Variationen. Wir freuen uns jedes Mal sehr.

Mit uns freut sich derjenige, für den wir dolmetschen. Ich sollte ihn vielleicht nicht "Kunde" nennen, sondern Klient, um das andere Wort frei zu haben. Hier der Ver­such der Ausdifferenzierung: Der Klient ist jener, mit dem ich die meiste Zeit ver­brin­ge, der Kunde derjenige, der am Ende zahlt. (Das Gleiche gilt natürlich für die Kli­en­tin, die Kundin usw., der ein­fa­che­ren Lesbarkeit wegen variiere ich sparsam.)

Oft weiß der Kunde nicht, was im Raum mit dem Klienten stattfindet. Das ist schade. So kommt es zu Anfragen wie dieser, die ich gerade auf dem Schreibtisch liegen habe. Dolmetschen soll ich ein längeres Interview, das ein Journalist im Auftrag eines renommierten Verlags führen wird. Der Verlag steht sehr gut im Geschäft, die Publikation ist erfolgreich.

Mir wird für das zweistündige Gespräch ein Honorar von 100 Euro angeboten. Der Ort, an dem das Gespräch stattfinden soll, ist ein kleines, feines Luxushotel im Grunewald. Für eine Strecke dorthin gibt mir die digitale BVG-An­fra­ge ei­ne durch­schnitt­li­che Reisezeit von 68 Minuten an. Mit dem üblichen Puffer auf dem Hinweg rechne ich 30+136, also knapp drei Stunden Fahrtzeit. Ich rech­ne wei­ter: Vor­ge­spräch mit dem Interviewer (so erbeten): 15-20 Minuten, plus anderthalb Stunden Interview, ich bin jetzt bei 273,50 Minuten.

Dazu kommt noch das Buch, um das es gehen soll, das mir der Verlag kostenfrei zuschicken wird. Konservativ geschätzt brauche ich 15 Stunden, um es zu lesen und zu verarbeiten. Zum Glück kenne ich frühere Werke der zu interviewenden Persönlichkeit. Trotzdem würde ich vorher noch das eine oder andere kurz zur Hand nehmen, also sagen wir mal 2,5 Stunden lang.

Ich lande bei einem Gesamtaufwand 22,06 Stunden. Rechne ich großzügig 100 Euro durch 20 Stunden, dann komme ich auf grandiose 4,42 Euro pro Stunde. Fürstlich. Logisch, das Luxushotel im Südwesten der Stadt will ja auch bezahlt sein. Und im Grun­de ar­bei­te ich ohnehin nur zum Zwecke meiner Allgemeinbildung, warum soll dafür ein Groß­ver­lag aufkommen? 

Ach so, noch ein O-Ton des Kunden: "Sie müssen das Buch doch nicht le­sen, Durch­blät­tern reicht völlig." Ob das der Klient weiß? Hm, viel­leicht ist die Dif­fe­ren­zie­rung Kli­ent/Kunde auch nicht sinnvoll, die Begriffe sind zu nah, können zu rasch verwechselt werden und derlei Differenzierung kennen Anwälte und Psychologen nicht. Der Text hier ist ein Versuchsballon, vielleicht fällt ja einer Leserin oder einem Leser ein besserer Begriff ein. Die Diskussion ist eröffnet.

Und für alle, denen die Pointe noch unklar ist: Dolmetschen lebt von Vorbereitung. Die Zeiten, in denen wir sichtbar sind, können wie hier einen Bruch­teil des Ge­samt­auf­wan­des darstellen. Und ich bin natürlich nicht in den Grunewald gefahren. Stattdessen habe ich mein Abo bei besagtem Periodikum gekündigt. Ich lese es lieber in der Beiz um die Ecke, da hat wenigstens auch die heimische Wirtschaft was davon.


P.S.: Mein Kostenvoranschlag sähe anders aus. Ich würde alles zu 100 % rechnen, auch die Fahrtzeiten, aber die Lesezeit nur zur Hälfte, denn ich kann Lesearbeit einschieben, wenn ich sonst Leerlauf habe, es blockiert keine gut­be­zahl­ten Ka­bi­nen­ta­ge. So komme ich auf einen Gesamtaufwand von 12,56 Stunden.

Da wir als Konferenzdolmetscherinnen in der Regel sechs Stunden pro Tag dol­met­schen, komme ich hier auf zwei Tage. Einen "Mengenrabatt" kann ich für gu­te Kun­den schon ab dem zweiten Tag geben, so dass ich mit 1400 Euro zu ver­han­deln an­fan­gen und nicht unter 1200 gehen würde, denn mein Output ist ja zur Ver­öf­fent­li­chung bestimmt, im Grunde müsste ich eine Urheberver­gü­tung von min­destens 25 % aufs Honorar draufschlagen. (Notiz an mich: Das so als Rechnung mit einem hö­he­ren Grund­ra­batt auszuweisen, ist sicher psychologisch kein schlech­tes Ar­gu­ment.) Korrekturlesen vor Drucklegung würde ich mit 75 Euro die Stun­de be­rech­nen. Das sind realistische Preise, die im obe­ren Mit­tel­feld des Marktes liegen.
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Foto: C.E. (Hotelbibliothek in Schwerin)

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