Mittwoch, 14. Dezember 2011

Fachwörterbuch

Unlängst parlierte ich mit einem Kollegen, Konferenzdolmetscher seines Zeichens, der bei einer Filmveranstaltung gedolmetscht hat. Er ist unter anderem auf Sport und medizinische Themen spezialisiert. Seine Performance war bei allen all­ge­mei­nen Themen hervorragend, bei allem Fachlichen trat das auf, was ich erst vor einer Woche hier beschrieb: Es war ungenau, wirkte wie ausweichend, stel­len­wei­se redundant. Ich nahm an der Veranstaltung teil und "hörte" auch kurz mal "rein".

Das zentrale Moment unseres Berufs ist immer die Vor­be­rei­tung. Dazu gehört, das Programm vorher eingehend zu studieren und über Worte wie la chronologie des médias zu stolpern. Dieser Terminus bezeichnet nicht den "Ablauf der Medien", sondern die Abfolge der verschiedenen Medien, die nacheinander Spielfilme nutzen, also Kino — DVD-Verleih (sechs Monate nach Kinostart) — Verkauf (sechs Monate oder später) — Video on demand (33 Wochen) — Pay-TV-Abo (12 Monate) — Free-TV (24 Monate nach Kinostart, wenn der Sender koproduziert hat) — Free-TV (36 Monate nach Kinostart, wenn der Sender kein Koproduzent war), das Ganze wird durch die immer kürzer werdenden Kinolaufzeiten immer öfter infragegestellt.
Hier wird auf Deutsch von "Auswertungsfristen" gesprochen, die in einzelne "Auswertungsfenster" unterteilt sind, das englische time window lässt grüßen. Wir Dolmetscher schreiben zu den Themen, über die wir arbeiten, im Vorfeld immer unsere eigenen Lexiken; bei Fachdolmetschern umfassen diese am Ende zusammen mit Kongress- und Vorbereitungsmaterial oft mehrere Aktenordner.

Zurück zur Filmveranstaltung. Das Pikante an den in der Kabine verbaselten Be­grif­fen: Diese "Auswertungsfristen" wurden auf der Konferenz detailliert erklärt, die deutschen Begriffe kamen wiederholt vor, es wäre ein leichtes gewesen, das Wort in der Kabine auf der Vokabelliste nachzutragen.

Wir notieren oft im Job Worte, die sich uns bei der Vorbereitung nicht erschlossen haben, zum Beispiel neugeschaffene Begriffe, ich denke da an meine erste Begegnung mit der "Schuldenbremse", als ich mit französischen Abgeordneten im bundesdeutschen Haushaltsausschuss war. Tagelang hatte ich zuvor im Netz nach dem offiziellen Terminus von "Schuldenbremse" gesucht, nach einem technischen Begriff, der diesen Vorgang halbwegs bildlich darstellen möge; das in den Medien verwendete Wort règle d'or schien mir der Welt der Kritik und der Presse an­zu­ge­hö­ren. Ich hatte verschiedene Varianten gefunden, zögerte aber in der Begegnung, sie auszusprechen. In mein Zögern hinein sagte der französische Botschafter in Berlin, der die Delegation begleitete, leise ermunternd nur la règle d'or ... und ich verwendete es für den Rest des Tages. (Merci beaucoup, Monsieur l'Ambassadeur !)

Sprung zurück ins Gespräch mit dem Dolmetscher, der (nicht nur) mit der "Medienchronologie" haderte. Sehr interessiert an meiner Fachrichtung, bat er mich um meine Vokabellisten. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, dass mich mein Gegenüber, obwohl es selbst über eigene Fachgebiete verfügt, nicht richtig ernst nimmt. Lexiken entstehen über viele Jahre. Die ersten gibt's nur noch auf Papier, die dazugehörigen Datenträger sind längst nicht mehr lesbar. Dann hatte ich mir bei Drehs in elend langen Wartezeiten Vokabelkärtchen gebastelt. Nicht zu vergessen der kleine Stapel alter Dispos, die mit Fachtermini übersät sind.

Vieles übertrug ich für mich gar nicht mehr in Lernlisten, denn ich hatte die Begriffe längst on the job gelernt. Später habe ich für die französischen Filmtage Tübingen ein Lexik hergestellt, als ich dort ein Jahr lang künstlerische Leiterin war (zwei weitere Jahre habe ich dort moderiert (vor dem Jahr als künstlerische Leiterin) bzw. Programm kuratiert (danach)).

Die Krux der Situation, in der wir uns alle befinden, ist schnell erklärt: Es gibt kaum Fachwörterbücher für den Filmsektor. Die Geyer-Werke hatten im letzten Jahrhundert mal sowas aufgelegt, es ist aber schon lange vergriffen, und mein Exemplar stammt von einem alten DEFA-Re­gis­seur, der es mir verehrte, als er sich zur Ruhe setzte. Der Rest meiner Wörterbücher ist einsprachig. Es gibt Bücher über technische Begriffe, über Etappen der Filmherstellung und ihr Vokabular, film­wirt­schaft­liche Grundbegriffe, dazu etliche Lehrwerke. In meinem Bücherschrank steht ein halbes Regalbrett davon. Oft lese ich abends in den Fachbüchern auf der Suche nach einem bestimmten Wort, während neben mir jemand sitzt und in Designbüchern nach einem bestimmten Entwurf sucht. Wir fühlen uns dann immer wie Forscher, wie Entdecker, wie Baumeister unserer eigenen Welt. Retour aux sources nennen die Franzosen das, zurück zu den Quellen. Diese Grundlagenarbeit ist integraler Bestandteil unseres Tagewerks, denn beim Suchen und Blättern aktivieren wir unser Wissen, lernen 'inzidentell' Neues, stärken die Verknüpfungen unserer Neuronen.

Zu meinem Bedauern hören übrigens die Veranstalter von mehrsprachigen Events die Verdolmetschungen selten gegen. Spezifisches feed back erhalten wir meistens nur dann, wenn zum Beispiel der Gatte der Veranstalterin die andere Sprache kaum versteht und auf Verdolmetschung angewiesen ist (wie neulich geschehen). Oder aber ich höre, wie ich es mit dem literarischen Übersetzer Alain Lance erlebt habe, als ich Christa Wolf vor einem halben Jahr für Arte verdolmetscht habe: "Die Journalistin hat immer auf den Punkt genau nachgefragt, daran habe ich die Qualität Ihrer Arbeit erkannt."

Einschub. Ich rekapituliere mal rasch, was für unseren Beruf neben der Fähigkeit zum Multitasking notwendig ist: Liebe zur Sprache und zur Kleinteiligkeit, Muße, seine Fachkenntnisse regelmäßig und zu festigen und zu erweitern, rasche Auf­fas­sungs­gabe und schnelles Schalten beim möglichen Aufschnappen von Worten, Lernfähigkeit, Konzentrationsvermögen sowie das, was die Franzosen une âme d'archiviste nennen, eine Archivarsseele.

Mein Dolmetscherkollege neulich verstand mein Zögern übrigens nicht gleich. Wie, die Listen seien auf Papier, er würde sich gerne der Sache annehmen und sie scannen. Ich zögerte nun auch, stammelte was von Vokabelzetteln und Dispos. Er wollte immer noch nicht verstehen. Ich wurde deutlicher: Ich wartete auf den Moment, an dem mich ein Verlag anfragen würde mit der Bitte um Erstellung eines Wörterbuchs. Ich bräuchte einfach mal Zeit, um das alles zu sortieren und aufzuarbeiten und auch, um für einen zweiten Teil den Grundwortschatz von den Fachwortschätzen zu trennen, denn es sei ja nicht zielführend und fürs Lernen nicht praktisch, alle Bereiche stets zu vermischen: Stoffentwicklung, Film­fi­nan­zie­rung, organisatorische und technische Drehvorbereitung und -durchführung, Endfertigung, Marketing. Das sei nicht nur sehr viel Heu, sondern stelle auch ein Kapital dar ...
Ich denke, dass mein Gegenüber am Ende verstanden hat.


P.S.: Die Arte-Sendung über die deutschen Schriftsteller, für die ich im Frühjahr gedolmetscht habe, ging leider total an mir vorbei. Ich hoffe, die Wiederholungen rechtzeitig mitzubekommen und werde hier dann einen Hinweis veröffentlichen.
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Fotos: C.E. (z.T. aus dem Archiv)

1 Kommentar:

caro_berlin hat gesagt…

Schuldenbremse auf Englisch: Balanced Budget Amendment

Gefunden bei Tanja