Mittwoch, 19. November 2008

In der Rütli-Schule

Ich wohne in Neukölln, und das auch noch gerne. Und gestern habe ich die Rütli-Schule besucht. Richtig, das ist jene Schule, die nach einem Brandbrief der Lehrer ab März 2006 als "unregierbar" in den Gazetten zitiert wurde.

Das ist lang her. Derzeit steigt der Bildungsstand Neuköllns dramatisch: Es ziehen immer mehr Studenten, Künstler und Besserverdienende her. Die Frühphase dessen, was Gentrifizierung sein kann, führt dazu, dass der Berliner Stadtteil keinen so ganz schlechten Klang mehr hat wie noch vor wenigen Jahren. Als vor kleinen Ewigkeiten meine Dolmetscherkollegin Kerstin und ich völlig unabhängig voneinander nach Neukölln zogen, war unser jeweiliges Umfeld entsetzt. Aber der Bezirk ist groß, wir wohnen in der "schicken" Ecke, da haben sich alle rasch wieder abgeregt. Aus der Presse und über Nachbarn sind wir so einigermaßen auf dem Laufenden, wie das Leben im Viertel aussieht. Dachten wir. Bis wir dieser Tage einen spannenden Dolmetschauftrag bekamen - wir dolmetschten bei der mehrtägigen Begegnung von Sozialarbeitern, Polizisten, Lehrern und Sozialarbeitern aus Clichy-sous-Bois und Neukölln. Das französische Clichy ist 15 Kilometer von Paris entfernt und zählt zu den Problemvororten - und aus Pariser Perspektive ist Neukölln Vorort.

Die Schwierigkeiten, auf die man in beiden Ortschaften trifft, ähneln sich, aber die Strukturen beider Länder, der Verwaltungen und Schuleinrichtungen nicht. Dennoch suchen nun alle gemeinsam nach den besten bereits umgesetzten Modellen, um auch jenseits des Rheins den Bildungsstand anzuheben, entwickeln in Kooperation miteinander neue Projekte.

Solange alles auf der Arbeitsebene stattfindet und keine offiziellen Statements gegenüber der Presse gegeben werden, muss hier die Dolmetscherin schweigen. Aber die Gespräche und Begegnungen in der Europäischen Akademie, in der Rütli-Schule und anderenorts waren spannend - und außergewöhnlich. Selten hatte ich als Dolmetscherin so stark das Gefühl, vom Thema betroffen zu sein, und sei es auch nur als Nachbarin, wie dieser Tage. Und selten habe ich mit Kerstin so viel mitgelitten wie am 18., als Aleksander Dzembritzki, Leiter der Rütli-Schule, voller Elan und Mitteilungsdrang sämtliche Schnellsprechrekorde brach, so dass Kerstin immer lauter wurde, worauf er sich sicherlich wie ein Getriebener vorgekommen sein muss, was ihn noch schneller werden ließ ...

Das ist die Besonderheit der mobilen Dolmetschanlage: Wir Dolmetscherinnen stecken nicht im Kabuff, sondern sind mittendrin.

Auch die anderen Tage waren Viel- und Schnellsprechtage. Am Ende war ich heiser, was ich gerne für 24 Stunden als kleinen Schaden mitnehme, sollte es mir gelungen sein, meinen kleinen Beitrag dafür zu leisten, dass Neukölln nicht mehr auf noch mehr Zuzug gebildeter Kreise warten muss, sondern möglichst rasch aus eigenen Kräften die Bildungsquote im Kiez deutlich verbessert. Ja, ich weiß, Bildung braucht Zeit, man wird ja noch träumen dürfen. Aber kein Traum ist, dass hier offenbar ein neuer Ansatz verfolgt wird, der sich schon mittelfristig auswirken könnte. Wir hoffen, alle Beteiligten nächstes Jahr in Clichy-sous-Bois wiederzusehen.

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