Sonntag, 30. April 2017

Schreibregeln

Bonjour, hello und guten Tag. Hier bloggt im 11. Jahr eine Dolmetscherin und Übersetzerin. Heute: Mein Sonntagsbild in Worten. 

Am Wochenende: Kurztrip nach Hamburg, Buchpräsentation und Erinnerung an ei­nen zu Jah­res­an­fang Verstorbenen. Neu ist hier, dass sich mit dem Freundeskreis vor allem eine digitale Community trifft, von denen viele wirken, als kennten sie einander sehr gut, die oft miteinander plaudern oder arbeiten, und trotzdem ste­hen viele den anderen Samstagabend zum allerersten Mal persönlich gegenüber.

1. Vermeide die 1. Person Singular ... 5. Eine Filmkritik ist mehr als die Filmzusammenfassung ... plus viele Schrottwörter
Schreibhinweise, vermutlich aus den 1990ern
Auch der Betrauerte hat sehr zu­rück­ge­zo­gen ge­lebt. Wenn seine letzte Ge­lieb­te mit einer jun­gen Frau dis­ku­tiert, die ihn exzellent zu kennen scheint, die ihm aber nie persönlich begegnet ist, und wenn beide sehr oft einer Meinung sind und sich ausgiebig unterhalten und In­te­res­san­tes zu sagen ha­ben, denkt die be­richt­er­stat­ten­de Dol­met­sche­rin über ge­schrie­be­ne Sprache nach.

Die Betref­fen­den hat­ten bis­lang oft nur über den Kurz­nach­rich­ten­dienst ei­ner In­ter­net­com­mu­nity mit­ein­an­der zu tun. Ja, es gibt Aus­nah­men. (Es geht um face­book, wa­rum nicht den Na­men nen­nen.)

Der elektronische Kontakt in Realzeit ist so bedeutend und präsent, dass sich die Sinneskanäle verschieben: aus 'gelesen' wird oft 'gehört' in Wahrnehmung und Be­richt.

"Das (...) ist typisch für ihn, sowas hat er oft gesagt", meint die andere über die Hauptperson des Abends. Die eine nickt.

Eine solche Verschiebung habe ich schon mal erlebt. Ich denke an den welt­bes­ten Patensohn, der nach Ansicht des Films "Der neue Krieg der Knöpfe" (La nouvelle Guerre des boutons, Regie: C. Barratier) ganze Szenen mit verteilten Rollen nach­ge­spielt hat, lange bevor wir das Buch gelesen haben. Wir waren vor fünf Jahren in der Pressevorführung und haben die untertitelte Version gesehen (hier unsere Film­kri­tik). Damals hatte der Mini, der damals in der 3. Klasse war, tagelang die Figur des Petit Gibus nachgespielt. Auf meine Frage hin, woher er denn die Dia­loge ken­nen würde, kam prompt die Antwort: "Aber die hab ich doch gehört!"

Und dann fällt mir die Goethezeit ein mit ihren verbrieften Lieben oder Kafka und Milena, die sich wenigstens persönlich kannten und die mehrmals täglich Briefe ge­schrie­ben haben, der Postbote wurde damals zwei- bis dreimal am Tag vorstellig, Ver­zö­ge­run­gen wurden immer wieder kommentiert. Oft blieb den Menschen frü­he­rer Jahr­hun­der­ten das verwehrt, was wir heute kühn "entvirtualsieren" nennen. Die Menschen wussten trotz­dem viel vom fernen Gegenüber. So singulär, wie mir das Phänomen zunächst vor­kam, ist es also gar nicht. Und offenbar ist es um die Schreib­kul­tur heute doch nicht so schlecht bestellt, wie manche meinen.

Beim Verstorbenen handelt es sich den Journalisten Uwe Kopf, u.a. frü­he­rer Text­chef von "Tempo", dessen Buch "Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe" gerade bei Hoffmann und Campe erschienen ist. Seine Verbotsliste für Autoren von Film­kri­ti­ken ist unvergessen und leider bis heute hochaktuell. (Punkt Nr. 5, autsch!)

"Eigentlich" werde ich künftig streichen. Blogs hatte Uwe Kopf nicht im Blick. Und die bloggende Spracharbeiterin, die von sich immer in der 3. Person Singular spre­chen muss, "Die Dolmetscherin braucht eine Pause zum Bat­te­rien­wech­sel", darf in Aus­nah­me­si­tuatio­nen, und eine solche stellt so ein Arbeitstagebuch dar, in der 1. Person schreiben, erst recht dann, wenn es sich wie hier um Autiobiofiktion han­delt, oder? So ein Blog ist auch keine Musikkritik.

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Illustration: U.K. (in ein zweites Fenster
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