Dienstag, 19. April 2016

Sprache und Macht

Hallo, salut, hello! Hier bloggt eine Spracharbeiterin. Was mir aus meinem Leben in der Welt der Übersetzer und Dolmetscher für Französisch (und aus dem Eng­li­schen) auffällt, notiere ich hier.

Worte im Bild
Schreibfehler in der grafischen Umsetzung
Im hessischen Schulbuch eines bekannten Verlages für den Deutschunterricht der 5. Klas­se stand einst eine Ge­schich­te (und steht sie hoffentlich noch heute) von Peter Bich­sel: “Ein Tisch ist ein Tisch“. Auf einer meiner Kin­der­hör­spiel­cas­set­ten, die ich bei zahlreichen bronchialen Er­kran­kungen so oft gehört ha­be, dass ich alles mit­spre­chen konnte, hat dieser Peter Bich­sel seine Geschichte mit seinem gemütlichen Schwei­zer Akzent selbst vor­ge­tra­gen.

(Leider habe ich diese Tonaufnahme im Netz (noch) nicht wiedergefunden.)

Es geht um einen Mann, dem eines Tages einfällt, die Dinge mit anderen Begriffen zu belegen als jene, auf die sich die Allgemeinheit verständigt hat. Das geht eine Zeit lang so, es beschäftigt den Mann, bis er am Ende völlig vereinsamt ist, denn mit niemandem kann er sich mehr austauschen. Er hat sich in seinen verschobenen Begrifflichkeiten eingemauert.

Mich hat das Kind diese Geschichte fasziniert, denn sie geht von anderen Sprachen aus, die für die Bezeichnung ein- und denselben Gegenstands völlig andere Klänge nutzen.  Sie macht in wundervoller Weise die Willkürlichkeit der Laute und Regeln klar, auf die sich die verschiedenen Kulturen verständigt haben.

Jetzt gerade muss sich wieder an diese Geschichte denken, denn sie funktioniert auch in einem größeren Rahmen. Unser Vizekanzler reist nach Ägypten und nennt nach Gesprächen mit dem Präsidenten diesen einen „beeindruckenden“ Mann. Das ist ganz so, als wäre Al-Sisi nicht für Folter, Zensur und Polizeiwillkür bekannt. Denn eigentlich geht es diesem Vizekanzler nur darum, den Ägyptern Geld zu ge­ben, damit diese ihre Grenzen besser überwachen.

Die europäischen Länder haben ihre Grenzen an der Ostseite geschlossen, den Syrien nächstgelegenen Ländern, und es geschieht, womit alle gerechnet haben: Kriegs-, Klima- und Wirtschaftskriegsflüchtlinge brechen in Nussschalen auf die große Mittelmeerüberquerung auf, es kommt erneut zu mindestens 300 Toten, und Europa überlegt sich, wie da­rauf mit einer „Rettungsmission“ zu antworten sei. Reminder: In diesem Bereich des Mittelmeeres starben vor ziemlich genau einem Jahr 700 Flüchtlinge. Als Dol­met­sche­rin erinnere ich mich leider zu gut an Ge­sag­tes. Damals hieß es: So etwas darf nie wieder geschehen.

Echte Rettungsmissionen sehen anders aus. Die Berliner Luftbrücke war mal eine solche. Und wann werden die Regierenden die De-facto-Abschaffung des Asyl­rechts, eine der Lektionen aus dem 2. Weltkrieg, auch de jure abschaffen? Welchen Namen werden sie der Sache geben? Rettung des Hausfriedens?

Ein Fernsehmensch demonstriert etwas mit der Ansage à la Das, was jetzt folgt, darf nicht sein, es ist verboten, denn es ist keine Satire, die anderen Beiträge der Kollegen waren satirisch und sind von der Kunstfreiheit gedeckt. Und die ganze Welt re­agiert so, als hätte es diese Anmoderation nicht gegeben, die Medien über­schla­gen sich, das Thema wird tagelang auf höchster Regierungsebene verhandelt, die wirk­lich wesentlichen Punkte geraten aus dem Blickfeld.

Zum Beispiel scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass die Türkei in Syrien Kriegsteilnehmer ist, indirekt, sie hat strategische Interessen daran, dass Syrien keine Gaspipeline durch sein Land baut, denn damit würde Türkei etwas von sei­nem Alleinstellungsmerkmal verlieren, dass ihm regelmäßig Wegezoll einbringt; außerdem bekämpft die Türkei mit kriegerischen Mitteln ihre kurdische Minderheit im eigenen Land, während die Kurden auf der anderen Seite der Grenze  an der Niederschlagung Daeshs beteiligt sind.

Genau diese Türken werden nun zu unseren „Freunden“ und Geschäftspartnern, wenn sie Lager für syrische Geflüchtete bauen. Währenddessen sollen sie an der ebenfalls scharf überwachten türkischen Grenze auf syrische Flüchtlinge ge­schos­sen haben.

Dem Tisch sagte er Teppich. / Dem Stuhl sagte er Wecker. (Bichsel)

Die Begriffe „Europäische Werte“ und Menschenrechte hatten auf unserem Kon­ti­nent, von dem Menschen wie Stückgut außerhalb der Grenzen verschoben werden, mal einen guten Klang. Wenn das so weitergeht, muss die europäische Union ihren voreilig erhaltenen Friedensnobelpreis zurückgeben.

Weiter geht es auf Französisch mit George Orwell und Victor Klemperer, für mich beides alte Bekannte; ich freue mich, dass Klemperer jetzt auch in Frankreich be­kann­ter wird: www.cincivox.wordpress.com!



Vokabelnotiz
mettre les points sur les i (wörtlich: Die Is mit Punkten versehen)  – die Dinge beim Namen nennen
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Illustration: yowillnevergetme

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