Samstag, 3. Oktober 2015

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Bon­jour, hallo! Hier bloggt eine Dol­met­scher­in und Über­set­zerin (Fran­zö­sisch sowie Eng­lisch, dies al­ler­dings nur als Ausgangssprache). Ich arbeite in Paris, Berlin, Köln, Hamburg ...
Heute: Link der Woche.


Ein Vierteljahrhundert deutsche Einheit, und noch immer ist diese Einheit eine gro­ße Bau­stel­le. In Deutschland wurde in Sachen Bevölkerungspolitik wiederholt der psychische Teil vergessen, den Menschen nun einmal auch ausmachen. Das war bei der Zuwanderung durch die damals "Gastarbeiter" genannten Menschen so, das war bei der deutschen Einheit so, die bei zu vielen im tiefsten Sachsen oder im tiefsten Schwarzwald noch nicht verarbeitet wurde.

Wüstenprinzessin im LaGeSo
Und das droht auch bei vielen Flücht­lin­gen so zu werden, von denen viele als Zuwanderer bleiben werden, einfach weil ihre Kinder in der Ausbildung sind oder weil sie hier die Le­bens­part­ner finden werden.

Jetzt mehren sich die Berichte zu se­xu­el­ler Gewalt und Übergriffen in Flücht­lings­la­gern, hier der Link zu einem Taz-Artikel. Und ich fühle mich einmal mehr wie die Kassandra, wie die Pro­phe­tin (naja, mit dem Namen), die aber im Lande nichts gilt.

Denn erste Mails und Briefe zum Thema verschicken wir, die wir als psychosoziale Begleitung mit Flüchtlingen arbeiten, seit Ende Juli. Irgendwie stellt sich der Eindruck ein, dass es niemand hören will. Die Behörden scheinen überfordert mit der Verwaltung des Alltags. Nein, sie scheinen nicht, sie sind überfordert. Woran liegt das?

Die Kontingentflüchtlinge und die Menschen aus dem Kossovo haben in den 1990-er Jahren keine derartigen Tumulte produziert, weder reell noch medial. Ziehen wir den In­ter­net­fak­tor ab, heute sind Medien deshalb schneller, lauter, muss ich fest­stel­len, dass nur zwei mögliche Erklärungen übrigbleiben: Der schlanke Staat ist derart auf seinen Kern reduziert, dass er stellenweise nicht funktionsfähig ist. (Ich möchte mir kein Erdbeben oder eine echte Katastrophe in Deutschland vor­stel­len.) Zweiter Punkt: Man hatte sich eingerichtet, abgeschottet. Dublin II ist nichts an­deres als das Übertragen der Probleme auf die Anrainerstaaten, deren Wirt­schafts­pro­ble­me aber auch bekannt waren. Bei der Verwendung des Narrativs vom Ex­port­welt­meis­ter, der gut durch die Krise kommt, ist ein hohes Maß Rea­li­täts­ver­dräng­ung be­tei­ligt. Und Em­pa­thie­man­gel.

Womit ich beim nächsten Thema wäre, beim Umgang mit den Mehr­fach­trau­ma­ti­sier­ten. Derzeit gibt's noch nicht mal "satt-sauber-gesicherter-Schlafplatz-für-alle", in ersten Auffangslagern kommt ersten Zeugenaussagen zufolge auch schon "se­diert" hinzu. Bitte mal kurz mitdenken und -fühlen: Wie ist es, nach einem grau­sa­men Krieg und einer schrecklichen Flucht in einer großen Halle zu Hunderten zu schlafen, von denen nachts viele schreien und weinen, die angestaute Ag­gres­sio­nen haben, die auch ihre Prägungen mitgebracht haben, und dann merken Sie, dass Sie ständig müde sind, dass sich ein Schleier über ihre Wahrnehmung legt. (Die Zeugenaussagen sind aufgenommen, die Sache ging an die Behörden. Genauso wie seit Monaten die Behörden über den psychologischen Behandlungsbedarf vieler Geflüchteter informiert sind und dass das Ehrenamt hier an seine Grenzen stößt.)

Zurück auf die Meta-Ebene: Wir verschenken gerade wesentliche Monate, die der Verarbeitung, dem Sprachenlernen und damit der  zur Integration gehören sollten. Die Verweildauer in den Massenunterkünften zu verdoppeln, wie durch den Ge­setz­ge­ber dieser Tage verfolgt, ist falsch und folgt nur dem Prinzip: Wir schaffen das nicht anders, also passen wir das Gesetz den Fakten an.

Dieser Tage bin ich oft sprachlos, auch, wenn ich an die Fehler aus den letzten 25 Jahren denke. Das ist kein Zustand für eine Dolmetscherin.

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Foto: Reinhard Ahrens

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