Dienstag, 28. Oktober 2014

Damenkarte

Ge­plant oder zu­fäl­lig, Sie ha­ben die Sei­ten mei­nes di­gi­ta­len Ar­beits­ta­ge­buchs auf­ge­schla­gen. Wir Sprach­mittler haben eine Art hippokratischen Eid geschworen, sind zu Diskretion ver­pflich­tet, daher werfe ich hier nur Schlaglichter auf all­ge­mei­ne Phänomene aus dem Berufsalltag.

Erster Einstieg: Eigentlich wollte ich heute meine Testberichte fortsetzen und über eine Firma schreiben, in der ich mir ein Kopfkissen aus Naturmaterialien selbst "gebaut" habe. Dieser Bericht muss bis morgen warten. Heute hatte ich alle Hände voll zu tun mit Präsentationen, Fachjargon und Hintergründen, die mir nicht immer sofort eingeleuchtet haben.

Zweiter Einstieg: Es gibt Wörter, bei denen wundere ich mich, dass das Internet sie schon kennt, denn sie stammen aus einer hochgradig analogen Zeit. Das Wort "Da­menkarte" gehört dazu.

Eine solche Karte ist, so klärt das Netz interessierte Leserinnen und Leser gleich an mehreren Stellen auf, "eine speziell für Damen konzipierte Speisekarte", denn sie enthält keine Preisangabe. Weiter mein Textbespiel: "Der Herr erhält dagegen eine Karte mit Preisen, da ihm auch die Rechnung vorgelegt wurde." Interessant hier die unterschiedlichen Tempi, die einander zu widersprechen scheinen. Der Herr er­hält, Präsens, eine Karte mit Preisen, da er, — Achtung, Zeitsprung! —, in der Ver­gan­gen­heit an­schlie­ßend die Rechnung überreicht bekam.

company figures —  revenues (geschwärzt)
anonymisiertes Beispiel aus der Praxis (nur Zahlen + Titel stimmen)

In manchen Restaurants gibt es auch heute noch Damenkarten, das sind jene Be­wir­tungs­be­trie­be, in denen Tischdecken und Servietten aus gestärktem Stoff sind und in denen das Personal auf Zehenspitzen um die wenigen vorhandenen Tische her­um­schleicht. In der Mehrheitsgesellschaft "stehen" Frauen aber jetzt "ihren Mann" und haben ihr eigenes Geld. Da ist auch kein Tabu mehr, was für Speis und Trank so zu blechen ist. (Die jüngere, postfeministische Generation scheint sich allerdings immer häufiger in diese alten Zeiten zurückzusehen.)

Was verbindet nun Einstieg eins und Einstieg zwei? Die berichterstattende Dol­met­scher­in raufte sich heute das darob langsam ergrauende Haupthaar, denn ein Groß­teil der Präsentationen einer anstehenden Konferenz war nach der Art einer Da­men­kar­te gestaltet. Es waren zwar noch hier und dort noch einige Über­schrif­ten übrig, auch die Legenden bleiben nicht ganz stumm, aber alle Zahlen haben ge­fehlt, und damit Entwicklungen, die zu beobachten oder schon mal zu durch­den­ken wä­ren.

Vermutlich sind auch bei den anschließenden Zusammenfassungen einige Punkte gestrichen worden. Nun ja. Ein wenig hinkt mein Vergleich, denn anders als die Preise im (noblen) Restaurant sind Zahlen durchaus wichtige Informationsträger. Aber etliche "Damenkarten"-Präsentationen, auf denen zum Teil sogar nur ein Foto und ein Titel zu finden ist, haben meinen Vorrat an Phantasie aufgebraucht.

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Illustration: anonym

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