Dienstag, 21. Januar 2014

Mechanik

Will­kom­men auf den di­gi­ta­len Ta­ge­buch­sei­ten einer Dolmetscherin und Über­setzerin. Ich trans­for­mie­re nicht nur Sprache, ich beobachte auch meine Zeit. Heute: Beobachtungen, die ich lieber nicht gemacht hätte.

Ein überaus mechanisches Weltverständnis vieler Mitbürger erschüttert mich dieser Tage. Vor allem, dass es immer weitere Kreise zieht.

Da ruft neulich Frau Meier an, eine potentielle Kundin, und fragt nach Konditionen und Preisgefüge. Um eine Einschätzung zu erhalten, sagt sie, und "Thema ist ganz leicht". Sie brauche mich nur für eine Stunde.

Der Schachtürke als Stich
Meine Nachfragen gehen auch dieses Mal über das Übliche hin­aus, also Anlass, Hinter­grund, Ziel, Tag, Uhrzeit usw. Ich sage, dass eine Stunde ab­so­lut unüblich sei, außer viel­leicht bei Routinesachen im be­nachbarten Krankenhaus, wenn sonst nichts zu tun ist. Dass Vor­be­rei­tung immer aufwändig sei, dass das Hin- und Her­schal­ten auch Energie koste, kurz: gei­sti­ge Präsenz.


So erklärt, könne sie gut folgen, das sagt sie laut und atmet dabei merklich auf. (Meine Telefonate werden immer didaktischer, hoffentlich wird das nicht peinlich.) Dann möchte ich wissen, wie sie mich gefunden hat. Über die bekannte Such­ma­schine, lautet die Antwort. Die ersten drei auf der Liste hät­ten übrigens nicht so gut erklärt, die hätten eine (hohe) Summe aufgerufen und fertig.

Was die Anrufende nicht bemerkt hat: Die ersten drei Kontakte auf der Liste, die sie nach Eingabe der Worte Dolmetscher und Berlin findet, führen zu sales agents. Sie sitzen bei einem Dol­metsch­mak­ler im call center, das auch unter dem Dach der betreffenden Firma angesiedelt sein kann. Fachliche Nachfragen zählen hier we­ni­ger, es geht ums Verkaufen. Leider hinterlegt seit einiger Zeit Tante Gugl ge­werb­li­che Anzeigen nicht mehr so auf der Seite der Suchergebnisse mit einer Farbe, dass sie deutlich als solche er­kannt werden können, jedenfalls bei PCs.

Nächster Anruf. Herr Müller ist dran, dessen Tochter Übersetzerin und Dol­met­scherin werden möchte. Das sei doch kein Beruf mit Zukunft, das würden doch bald alles Maschinen übernehmen. Ich erzähle ihm von meinen Einsätzen bei Po­li­ti­kern und Filmstars, von nicht zuende gesprochenen und vernuschelten Sätzen, von kulturellen Bezügen, Dialekten und sich zum Teil stündlich ändernden An­spie­lungs­möglichkeiten aus allen Themengebieten oder aus dem direkten Umfeld, Stich­wort private joke. Hier kommen Maschinen nicht mit, und es steht auch nicht zu er­war­ten, dass sie es tun werden.

Drittes Beispiel. Heute morgen auf Facebook, wo sich viele Dolmetscher und Über­setzer in einer "geschlossenen Gruppe" austauschen. Dort lud heute eine Stu­den­tin, nennen wie sie Frau Schmidtowa, folgende Anfrage hoch, die ich einfach rasch kom­men­tie­ren musste, bevor sie die Moderatoren gelöscht haben (und sorry, Frau Merkel, so war das nicht gemeint.)

Hallo! Ich komme aus Russland, studiere Politikwissenschaften an der FU und würde gerne als Dolmetscherin arbeiten. Falls jemand Aufträge hat, bitte eine Nachricht schreiben ... Mein Kommentar: Und ich arbeite nebenberuflich als Kanzlerin.

Ich rekapituliere die Damen und den Herren MüllerMeierSchmidtowa:
⇒ Was Tante Gugl und andere Suchsysteme ausspucken, ist immer objektiv, und ganz oben stehen die besten Antworten.
⇒ Das Weltwissen wird in Maschinen eingegeben, die können anschließend alles automatisch richtig zuordnen und umsetzen.
⇒ Um zu dolmeschen/zu übersetzen reicht es aus, die betreffenden Sprachen ganz ordentlich zu beherrschen.

Was mich nachhaltig schockiert: Alle drei Anrufer waren Akademiker oder auf dem Weg dorthin. Alle darf ich zur Elite des Landes zählen. In Zeiten, in denen wir im­mer leichter Zugang zu Informationen finden, werden wir offenbar alle dümmer. Und ich schreibe jetzt hier nicht über die Masse der Bevölkerung.

Bei solchen Stories denke ich an die Jahrmarktsattraktion des Schach­tür­ken, le Turc mécanique oder mechanical turk. Ende des 18. Jahrhunderts ließ ein Österreicher einen "Automaten" bauen, der angeblich schachspielen konnte. Natürlich war im Kastentisch darunter ein Mensch versteckt. (Der Begriff, einen Türken bauen, könnte von diesem Gerät aus dem Rokoko kom­men.)

Nicht ohne Ironie hat Amazon, einer der bekannten Sweatshops der erweiterten Netzindustrie, nun eine Plattform für digitale Minijobs Mechanical Turk genannt. Wer Recherchen, Fotoretuschen oder die Beschreibung von Bildern zum Preis klei­ner­er Rupienbeträge sucht, ist hier richtig. Ach, und wen wundert es, sogar Über­setzungen werden hier angeboten! Ich liiiebe den Ausdruck "menschlich un­ter­stützte Übersetzungsdienste". Die Automatendienste brauchen nur ein win­zig­klei­nes bisschen Unterstützung durch menschliche Lebewesen. Das ist in der Tat "künstliche künstliche Intelligenz", wie es heute so wunderschön Xavier de la Porte auf France Culture zitierte. Ihm verdanke ich auch den Amazon-Hinweis, merci beaucoup !


P.S.: Eigentlich dürften mich diese Tendenzen nicht stören. Die Preise für Qua­li­täts­über­setzungen und -dolmetschungen steigen. Aber mit dem Dolmetschmarkt verhält es sich wie mit der Gesellschaft: Die Mittelschicht wird immer dünner. Und ich möchte nicht mein Geld für Werbung raushauen, wo ich es für Korrektorate investieren kann. Noch ein Problem: Qualität scheint immer weniger nachgefragt zu werden. Wenn's schlimm kommt, kann ich immer noch Lehrerin werden, Do­zen­tin für praktische Kommunikation, Sloganerfinderin für die Werbeindustrie oder Stadt|­füh­rer­in|bilderklärerin (auf Ostdeutsch) oder sogar Lobbyistin für un­ab­hän­gi­gen Do­ku­men­tar­film und die Ge­nos­sen­schafts­idee. Voilà !
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Illustrationen: Wikicommons, facebook

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Le Turc mécanique: Originelle Betrachtungsweise eines leidigen Themas. Vielen Dank

caro_berlin hat gesagt…

Danke für die Rückmeldung! Freut mich, wenn die Texte gefallen.

caro_berlin hat gesagt…

Seit Anfang dieser Woche kennzeichnet Tante Gugl gewerbliche Anzeigen mit einem kleinen, auffälligen, gelben Anzeigen-Schild. Gut ist das und hilft (vielleicht) den mechanisch Denkenden, etwas genauer hinzusehen.

caro_berlin hat gesagt…

Und heute sind gewerbliche Anzeigen leider wieder "nur" andersfarbig hinterlegt. Schade, die Anzeigen-Schildchen (wie kleine Preisschildchen) waren eindeutiger.

caro_berlin hat gesagt…

Und jetzt gibt's wieder den gelben Kasten, dafür ist das Wörtchen "Anzeige" ganz klein und rechts oben im Kästchen platziert.