Donnerstag, 12. September 2013

Zeitmanagement, die Zweite

Hal­lo auf den Sei­ten mei­nes Dol­metsch­er­blogs. Hier be­rich­te ich aus dem All­tag. Zum Bei­spiel gestern, spä­ter Vor­mit­tag. Ort: mein häus­li­ches Ar­beits­zim­mer. Hand­lung: das Handy kling­elt. Kurz­fristig wurde doch ein Dol­met­scher ein­be­stellt zu einem Mit­tag­es­sen im Re­gie­rungs­vier­tel. So kurz­fristig, dass zwischen Te­le­fo­nat und Termin genau 26 Stunden lagen. Hier, was dann geschah ...

Derartige Beauftragungsfristen kennen Dolmetscher, die bei großen Behörden fest­an­gestellt sind. Freiberufler wie ich erleben das eher selten. Normalerweise liegen bei mir die Buchungen vier bis zwölf Wochen im Voraus vor. Ich sage hier gerne zu, das Thema kenne ich gut, habe bereits Dokumente im Umfang von Di­plom­ar­bei­ten dazu redigiert bzw. umgetextet. Ich muss mich nur auf den neuesten Stand brin­gen, um als Dolmetscherin das Tischgespräch zwischen po­li­tisch Tä­ti­gen aus meh­re­ren Ländern begleiten zu können.

Dolmetschersymbol: Eine in beide Richtungen sprechende Figur zwischen zwei Figuren, die jeweils nur in eine Richtung sprechen
Das Politikfeld, um das es geht, ist in besonders starkem Wandel begriffen. Es streift die Bereiche Wirtschaft, Jura (Wettbewerbs-/Urheberrecht), Kultur, Technik, Medien. Seit Jahren schälen sich hier Fachtermini vor unseren Augen (überwiegend aus dem Englischen) he­raus, verfestigen sich erst mit der Zeit. Die entsprechende Vo­ka­bel­sam­mlung, laut eigens an­ge­fer­tig­ter Legende (dazu morgen mehr) seit fünf Jahren in Ver­wen­dung, führt weit über 300 Stichworte auf.

Rasch überfliege ich die Lexik. Nicht immer konnte ich bereits die Begriffe zu Wort­paaren ergänzen. Beim Lesen trage ich manche Übersetzung nach, die letztes Jahr noch nicht eindeutig schien. Ich markiere Veränderungen durch un­ter­schied­li­che Schriftgrößen bzw. setze auch mal was fett.

Dann macht es heftig "plopp" im Mailbriefkasten, eine große Sendung. Ebenso gro­ße Erleichterung, denn die Namen auf der Gästeliste kenne ich zu 80 %, den Ho­ri­zont der Fragen kann ich damit großteils erahnen. (Es sind etliche langjährige Kun­den darunter.)

Die Ansprechpartnerin der Behörde hat Zusammenfassungen einer Studie mit­ge­schickt, um die es geht, sie liegen auf jeweils drei Seiten pro Sprache vor. Über­schau­bar. Die Publikation selbst umfasst mehr als 700 Seiten. Es ist der Ar­beits­be­richt einer Kommission mit Analysen und Quellen, entstanden in einem knappen Jahr. Ich bin froh, das Original studieren zu können, kann mir aber auch aus­rech­nen, wie wenig Stunden ich am Stück dafür haben werde, exakt drei, denn der Vorabend ist seit Wochen verplant (und ich will nicht schon wieder Kon­zert­kar­ten verschenken).

Organisation ist also wieder mal alles. Wie gehe ich vor? Zunächst erfreue ich mei­ne grauen Zellen mit dem Wühlen in der bewährten Vokabelliste. Die schöne Re­dens­art "Wiedersehen macht Freude" gilt auch für Wörter. Dann überfliege ich, was ich im Umfeld in den letzten 12 Monaten zu dem Bereich selbst übersetzt oder um­ge­textet habe. Der nächste Schritt: Ich lese zwei, drei Zeitungsartikel zum Thema. Die Zeitungen sind mir wohlvertraut, auch hier klingelt Pawlow mit seinen Glöck­chen, so lerne ich jeden Tag, meine Synapsen freuen sich über Routine und Hirn­fut­ter.

Die Muskeln des körpereigenen Zentralcomputers sind jetzt aufgewärmt. Ich gehe die Zusammenfassungen an. Lese im Wechsel beide Sprachfassungen, vergleiche mit meiner Liste, ergänze, ändere ... und versuche, die Lektorin in mir in bezug auf die Übersetzung stumm zu bekommen. ("Nein, liebe innere Stimme, hier geht's nur um die Infos, die Sache ist längst veröffentlicht!")

Dann muss ich wirklich "richtig" lesen. Und zwar ohne ständig an eine Übersetzung zu denken. Ich lese auf Inhalt und mache mir nur noch ab und zu Vokabelnotizen, vor allem zu Abkürzungen, weil ich weiß, dass meine Vorarbeit gut war, die Liste ausführlich ist. Sie gibt ein Wortfeld wieder (champ linguistique), viele Fach­ter­mi­ni, aber auch allgemeine Begriffe, die mit der Problematik in Zu­sam­men­hang stehen.

Achtung! Bauarbeiten-Warnschild
Nach dem Konzert habe ich mei­ne Notizen nochmal über­flo­gen und zum Glück ei­ni­ger­ma­ßen gut geschlafen. Am Mor­gen konnte ich in aller Herr­gotts­frühe die letzten Vo­ka­bel­notizen, das Hand­schrift­li­che vom Vortag, in die große Liste einarbeiten, sie al­pha­be­tisch sortieren, aus­drucken und eventuelle "Wackel­kan­di­da­ten" von Hand far­big her­vor­heben.

Nach solch' einer Aktion vergesse ich dann immer den ganzen Kram und gehe |fröh­lich pfei­fend| seelenruhig zum Termin, der diesmal mit einem (von anderen über­tra­gen­en) Publikumsgespräch anfing. (In Wirklichkeit habe ich im Taxi auf der Fahrt zum Arbeitsort noch den Podcast einer aktuellen Radiosendung zum Thema ge­hört.)

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Illustrationen: Webfunde

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