Dienstag, 10. Mai 2011

Szenenbeschreibungen

Hinten links die Drehbücher,
vorne links der Kalender ...
Letzte Drehbuchlesungen vor Cannes. Vergangene Woche haben die Produktionsfirmen schon einiges gedruckt, das derzeit in der Messekiste gen Süden reist. 
Jetzt schnell noch letzte Texte lesen ... weshalb ich heute der Einfachheit wegen mal wieder einen Blick auf den Schreibtisch fallen lasse.

Vorab gleich ein Geständnis: Ich gehe auf die Fünfzig zu, denn in wenigen Monaten werde ich in meinem Leben 50 Drehbücher übersetzt oder lektoriert haben, 20 in den ersten zwölf Berufsjahren, und 27 in den letzten zweieinhalb Jahren. Die ersten zehn Bücher dieser neuen "Reihe" waren Stress, ich musste mich immer an den Schreibtisch prügeln, weil ich ungern dauersitze; die nächsten zehn Bücher waren einsetzende Routine, weil ich erleichtert merkte, was ich alles schon kann; seither fühle ich mich wie eine Pianistin, die auf der Tastatur spielt (die auf Französisch auch prompt le clavier heißt).

Gesprochene Sprache "konnte" ich schon früher, das habe ich meinem ersten Berufsleben als Radiojournalistin zu verdanken. Worin ich jetzt viel hinzugelernt habe, sind Szenenbeschreibungen. Hier geht es darum, möglichst viel Stimmung und nebenbei auch das Besondere zu vermitteln, die später zu einem sich von der Masse der Filme abhebenden filmischen Werk führen soll. Nun, das Drehbuch ist nicht alles, aber ein gutes Buch ist die beste Grundlage, dafür tippe ich also jetzt jährlich eine Million Anschläge (nur fürs Übersetzen/Adaptieren von ca. zehn scénarios).

Wie aber werden die schönsten Einstiege vermittelt? Wie liest sich solch ein Text, der Verkaufstext, aber auch beizeiten der zentrale Informationsgeber für Filmökonomen, Szenenbildner, Ausstatter, Kostüm- und Kameraleute ist? Ich kann jetzt nur von den Franzosen berichten, die allzu technische Begriffe in Drehbüchern vermeiden. Der Effekt, eine Kamerafahrt gesehen zu haben oder harte Schnitte mit Zeitsprüngen, soll beim Leser im Kopf entstehen, ohne dass die Dinge explizit benannt werden: Der Leser wird zum Zuschauer.

Eine gemauerte Wand, an der ein Barockspiegel über einem Fresstrog für Kühe hängt, in den sich Wasser aus einem Industriewasserkran ergießt; darüber gedämpftes Technowummern. Am Rand hängt noch etwas Putz an der nackten Mauer, etwa handtellergroße, rissige Platten. Es ist die Wand der Toilette eines angesagten Restaurants in Berlin.
Am "Waschbecken" steht ein Mann von Ende Zwanzig, dessen blondes Haar ein kahlrasiertes Gesicht einrahmt. Es ist Ben. Angestrengt säbelt er ein Stück Shit mit dem Taschenmesser ab. Am Ende gelingt es ihm. Er steckt es in die Tasche, verstaut den Rest in seinen Socken. 
Das Wummern wird lauter, ein anderer Gast betritt das Klo, Ben zuckt kurz zusammen, der andere stellt sich ans Pissoir. Ben betrachtet sich kurz im Spiegel, als wollte er sich selbst beruhigen. Sein Blick fällt auf den Riss im Putz, der größer wird.
Er öffnet die Waschraumtür; lautes Wummern, das wieder leiser wird; ein Putzfladen fällt ins Waschbecken.

Die Stelle, es ist ein Filmanfang, habe ich natürlich verändert bzw. neu montiert, denn das Buch ist ja noch nicht verfilmt. Mir geht's hier um die Reihenfolge des Beschriebenen, die fast schon der Auflösung entspricht. Wir sehen Details, eine wandernde Kamera am Anfang, die sucht, bis sie sich öffnet: Dann sehen wir den Protagonisten bei seinem "Gelderwerb", die Außenwelt kommt akustisch rein und in Person des anderen Restaurantgasts; und das Wummern, das an anderer Stelle ins Dampframmengedröhn moderner Presslufthammer übergeht, bedroht nicht nur den Putz des mit Bordmitteln improvisierten Herrenklos einer trendigen Gastronomie, sondern das ganze Haus selbst und damit einen real existierenden Ort, an dem Ben und seine Kumpane ansonsten in späteren Lebensjahren und sinnesgewandelt ihren Lebensmittelpunkt und damit eine Existenz hätten finden können.

Dieses Buch über Ben liest sich so wie eine moderne Variante der Lebensgeschichte des Franz Biberkopf. Er treibt ausgehend von einem alten Haus in Alex-Nähe seinen Handel, er wird nachher mit Befremden zusehen, wie sich anderenorts wohlhabende Menschen in Schaufenstern mit Bestecken aus Edelstahl Nahrungsmittel in die Münder schieben und seine "Mieze" geht fragwürdigen Geschäften nach ... Das wäre jetzt die Übertragung eines Plots ins Berlin der Nuller Jahre unseres Jahrhunderts.

Bei meinen Übersetzungen muss ich immer an Claude Chabrol denken, der mal im Interview erzählte, wie in seinen Drehbüchern jede Stelle eines jeden Satzes, aber auch jeder Absatz und damit auch jedes Satzzeichen eine Bedeutung hätten. Ich kann es nur vage rekonstruieren bzw. mit dem verbinden, was ich in den letzten Jahren gelernt habe. Kommata sind kleine Veränderungen in ein- und derselben Einstellung, ein Semikolon ist ein Sprung von einer auf eine andere Ebene (hier in die Akustik, die sonst in Drehbüchern kaum vorkommt, in unserem Beispiel aber fast eine eigene Rolle spielt), beim Punkt wird geschnitten oder sogar die Kamera umgestellt. Oder geschieht das erst, wenn ein neuer Satz am Anfang der nächsten Zeile losgeht? Und der nächste Absatz? (Liebe Chabrol-Interviewer von vor zehn Jahren, wenn ihr das lest: Mich würde eine Kopie des Mitschnitts sehr interessieren! D'avance merci !)

Die Szene auf dem Herrenklo in Alexnähe kann ich mir ebenso montiert wie in einem Zug durchgedreht vorstellen; die letzte Variante, die Plansequenz, ist mir persönlich lieber.

Es wäre auch ein schönes Augenzwinkern an die Filmgeschichte, die viele Filmanfänge mit langen Einstellungen kennt.

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Foto: C. Elias (Archiv)

2 Kommentare:

Bert hat gesagt…

Nachdem ich schon über einen längeren Zeitraum mitlese muss ich Ihnen heute mal ein Kompliment aussprechen.

Ein tolles Weblog, das ich am Morgen immer wieder gern in der S-Bahn als RSS-Feed lese. Nicht nur der Inhalt ist aussergewöhnlich gut, auch das Layout und die Struktur passen "wie die Faust auf's Auge".

Bitte weiter so und viel Erfolg in Cannes ;-)

caro_berlin hat gesagt…

You've made my day!