Sonntag, 5. Oktober 2008

Ch'ti là oder: Französisch aus der Picardie im Film

Will­kom­men et bien­ve­nue beim Ar­beits­ta­ge­buch einer Fran­zö­sisch­dol­metscherin und -übersetzerin. Meine Arbeitssprachen sind Deutsch, Französisch und Film, denn Film ist eine Sprache für sich. Hier denke ich öffentlich über unseren Alltag nach, stets unter Wahrung dienstlicher Geheimnisse.

Wunderkiste Internet: Letztens durfte ich einen Tschechen dolmetschen, der 1968 in Paris gelebt hatte. Die Dolmetscherkollegin riss die Augen auf, als sie sein Französisch hörte, und winkte ab. Ich übernahm den Kunden gern. Ich hatte in der Vorbereitung bemerkt, dass er kurz zuvor beim Sender France Culture zu Gast gewesen war und mich eine Programmstunde lang eingehört.

Ein anderes Beispiel: Ich wurde gebeten, einen Kostenvoranschlag für die Pres­se­ges­präche zum Film "Willkommen bei den Sch'tis" zu schreiben, dem er­folg­reichsten französischen Film aller Zeiten, der fast so oft gesehen wurde wie der in Frankreich erfolgreichste Film aller Herkunftsländer, "Titanic". Bienvenue ... /Willkommen... erzählt mit den Mitteln des Slapsticks einen in­ner­fran­zösischen clash of cultures, indem er Nordfrankreich mit den Augen eines vor­ur­teils­be­ladenen Südfranzosen zeigt. Dieser wird vor Ort eines besseren belehrt — die Leute sprechen zwar ein drolliges Kau­der­welsch, das "Chtimi", sie erweisen sich aber als offen, herzlich, treu  und feierfreudig.

So beschäftige ich mich im Rahmen dieses Kostenvoranschlags mit diesem Dialekt ... Nein, es wird von mir nicht gefordert, aus ihm ins Deutsche zu dolmetschen, und auch das Publikum bekommt einen synchronisierten Film angeboten, den ich mir in der Pressevorführung angesehen habe. Zunächst aber krame ich meine Erinnerungen an meine Sichtung des Films in der Originalfassung hoch. Dann finde ich im Netz Trailer und Ausschnitte auf YouTube, entdecke eine wundervolle Seite mit Audiosprachkurs zum Erlernen des Chtimi (weitere Links unten), die Über­setzungen aus dem Französischen in diese Variante des Picardischen samt 400 Hörbeispielen anbietet und höre mich ein ...

Wie viele Dialekte zeichnet auch Chtimi sich durch besondere Ausdrücke aus ('à toute berzingue' statt '... vitesse'), durch Auslassungen ('orelles' statt 'oreilles'), Eigentümlichkeiten in der Grammatik ('D'ù qu'ch'est t'as incore trainé ?' statt 'Qu'est-ce que tu as encore trainé ?') sowie Lautverschiebungen, die im Film selbst erklärt werden: "... Sie sagen ein [o] anstelle von [a], ein [k], wo wir [ch] sagen — und die [ch] sprechen sie, aber anstelle von [s]!"

Deutschen Ohren fällt auf, dass viele zum Teil deutsch klingende Zischlaute im Dialekt vorkommen, dafür andere ausgelassen werden, Beispiel: "Cha ch'est quéccose" für "ça, c'est quelque chose". Die Enden von Verben werden verschluckt — 'abatte' anstelle von 'abattre", stimmhafte Laute zu Zischlauten 'la(r)che' anstelle von 'large'.

Im Presseheft steht, der Dialekt sei für den Film ein wenig vereinfacht worden (und Dany Boon widerspricht dem in Interviews kurz vor dem Filmstart) — dennoch verstanden viele Franzosen im Kino immer wieder manches Wort nicht. Für die deutsche Synchronfassung wurde ein Kunstdialekt mit Lautverschiebungen aus den gleichen Konsonantenfeldern gewählt.

Und woran lag es, dass der Film in Frankreich diesen überragenden Erfolg hatte? Es gibt zwei Liebesgeschichten in dem Film, bei denen sich Paare aufgrund von echten Entscheidungen (wieder)finden. Der Film baut auf Vorurteilen auf, wobei das Spiel mit ihnen uns alle lachend klüger macht. Und er berichtet, dass es neben Paris noch ein anderes Frankreich gibt, das selbstbewusster Regionen nämlich: "Du wirst in den Norden versetzt", sagt der Personalchef unseres Helden an einer Stelle, und Letzterer fragt ängstlich: "Etwa Paris? Sag' mir, dass es nicht Paris ist!"  "Nein, nein, ich kann dich beruhigen!", antwortet da der Personaler, "es ist nicht Paris!" Last but not least ist Dany Boon, Autor, Regisseur und Darsteller einer der Hauptfiguren, seit Jahren in Frankreich als Stand-up-comedian durch Bühne, Funk und Fernsehen berühmt  auch das verschafft jedem Kinofilm einen Vor­sprung. Diese letzten beiden Faktoren fallen bei der Auswertung in Deutschland weg. Ich bin gespannt auf die Publikumsreaktionen, die Komödie startet am 30.Oktober.


Surftipps: Chtimi-Wörterbuch und "Sprachkurs" (bei Lexilogos), Satztraining mit Hörbeispielen, Alan Dawson über den Dialekt (im Nouvel Obs-Blog), die Gegend wird hier vorgestellt (in süß-falschem französischem Deutsch)
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Fotos: C.E.
Ch'ti là bedeutet celui-là — der da
(mit implizitem Fingerzeig)!

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