Freitag, 30. Mai 2008

The very last minute

Was ist mit uns allen los? Die eine Hälfte der Arbeitswelt rollt fast auf den Felgen, die andere ist der Last minute-Krankheit verfallen. Und zwar offensichtlich branchenübergreifend.

Letzte Woche in Cannes: Montag ist Wim Wenders auf dem German Films-Empfang und wirkt aufgeräumt, Dienstag heißt es, er sei wieder im Schneideraum und arbeite bis Samstag durch: dieser letztmögliche Termin, um im Wettbewerb zu laufen, passe ihm gar wunderbar, er sei nämlich nicht fertig geworden. Nun nehmen wir mal hin, dass manche Namen für unfertige Filme Festivalzusage, Katalogtext und Marketingmaterial "kriegen", aber wann war Drehschluss? Mittwoch vor ... naja, vier Wochen? Auch von Walter Salles hieß es, er habe bis morgens um fünf Uhr in Paris noch die Untertitel überwacht, bevor er am Abend den roten Teppich auf der Treppe hinaufsteigt.

Um einen anspruchsvollen Fachkongress dolmetschen zu lassen, meldet sich das Büro X genau zwei Komma fünf Wochen im Vorfeld, für eine Filmeinreichung in Brüssel reicht der Produktionsfirma Y offenbar Freitagmorgen als Vorwarnzeit, Mittag soll der Text kommen und "bitte zu Montagfrüh um neun, ja?"

Alles klar, wäre da nicht noch die Meinungsforscherin, die sich Ende April für Ende Mai meldet, wir einigen uns rasch über die Modalitäten, die aber die Auftragsbestätigung nicht zurückfaxt. Zehn Tage vor Termin kommt ein: "Wir haben den Einsatz um drei Tage vorgezogen, das macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus?" Nein, Madame, ich sitze hier ausnahmsweise den lieben langen Tag im Büro und ändere den Terminplan. Spreche mit Kunde Z, der zwei Mal den Auftrag absagte - um ihn letztendlich doch zu bestätigen. Nicht zu sprechen von der Laudatio, die binnen 48 Stunden vor Termin in vier Fassungen reinkommt, die letzte zwei Stunden vor dem Event ...

Sorry für die Beispielflut! Wer sich hier wieder erkannt hat, dem sei als Trost zugerufen: Fragen Sie mal meinen Steuerberater, wie viel (räusper: wenig) Luft in meinen diesbezüglichen Erledigungen ist. Da lauf jetzt ich an vor Schamesröte. Zu Recht.

Was machen wir alle da? Die permanente Erreichbarkeit brachte die Illusion der permanenten Verfügbarkeit mit sich. Wir sind alle hochgradig spezialisiert, und doch vergessen wir zu häufig, dass Arbeit eins bleibt: mühsam, und dass sie mehr als Wissen und Fähigkeit kostet: Zeit und Gelassenheit. Einen freien Kopf nämlich, der sich konzentriert und der frei gelassen wird von anderen Beanspruchungen. So einfach ist das. Aber seit der Erfindung des Faxgeräts ist das Moment der Gleichzeitigkeit in die Büros eingezogen, alle arbeiten gleichzeitig, auf den einen Punkt hin, Just in time, und was Straße und LKW sind bei der "rollenden Lagerhaltung", das sind eMail, Handy und Blueberry in der Work flow-Planung der "Weiße-Kragen-Berufe".

"Tschüss, ich bin dann mal weg", sagt die Kollegin aus der Filmproduktion Y an jenem Freitag, die mich mit Arbeit fürs Wochenende eindecken willt, der Filmförderantrag für Brüssel. Was hat sie vor? Geht sie Segeln? Oder zu einem runden Geburtstag?

"Stopp!", antworte ich, denn sie will mir nur die Arbeit rüberschieben und hat die Antwortpause nach der Frage zu meiner Verfügbarkeit zugetextet: "Stopp!, ich steh schon unter Vertrag, erst dolmetschen, dann freies Wochenende, fest gebucht. Tut mir Leid."

Und ich bin durch die Tür ...

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Merke: Hochqualifizierte Leute bitte so früh wie möglich buchen. Ich habe vorhin schon den ersten September-Termin gemacht, weil vor dem Dolmetschereinsatz die Zeit intensiver Vorbereitung liegt. In der Kabine steigt der Stresspegel, da bin ich gut beraten, die neuen Begriffe und Fakten nicht nur im Kurzzeitgedächtnis zu haben, sonst sind sie da ebenso schnell wieder draußen, wie sie reinkamen, der Adrenalinspiegel ist eine effiziente Welle ...

Bild: So sieht eine zerfranste Woche für zwei Personen aus (grün und grau) mit zwei ganzen und zwei halben Dolmetschertagen mit einem langen Tag (erst Interview, abends Premiere) sowie zwei Schlussredaktionstermine von Übersetzungen (bordeauxrot), last but not least die Buchhaltung (beige) ... "Studierzeiten" sind nicht extra ausgewiesen, nur kurze Termine (Beratung, Schreiben von Kostenvoranschlägen, Terminplanung, externe Fortbildung).

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