Dienstag, 27. Februar 2007

Das Runde und das Eckige

Was hat ein Folterkeller mit Fußball zu tun - und wie kann es sein, dass ein kanadischer Journalist unter den Augen seiner sprachkundigen Mitarbeiterin "Prèns Lawa Berk" schreibt statt "Prenzlauer Berg"? Hier mein Bericht aus der Zeit der Fußball-WM in Deutschland. Eine Dolmetscherin auf Abwegen ...

Dreh(tage)buch: Das Runde und das Eckige

07.09.06
Der Wecker klingelt morgens um vier, in meinem Kopf verschwimmen Traum und Wirklichkeit. Tatsächlich stand ich gestern Abend um elf noch vor dem bordeauxroten Samtvorhang des Berliner Cinéma Paris und dolmetschte ein Publikumsgespräch mit Spielfilmregisseur Stéphane Brizé. Jetzt fahre ich schnell zum Flughafen – und sitze knapp viereinhalb Stunden nach dem Aufstehen in München am Frühstückstisch, denn ich arbeite mal wieder als dolmetschende Journalistin/Rechercheurin fürs kanadische Fernsehen "Radio Canada". Eine knappe Woche lang habe ich schon Hintergründe erarbeitet und Gesprächspartner engagiert. Außerdem werde ich dolmetschen.

Anlass der Reise: die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft. Heute entsteht eine Reportage für die Abendnachrichten über den Countdown in München. Einiges haben die Kollegen gestern schon gefilmt, jetzt geht's ins olympische Dorf, auf der Suche nach der Stelle, an der 1972 Palästinenser bei den Olympischen Spielen israelische Geiseln nahmen. Die Polizei war damals überfordert, viele Menschen starben. In den ehemaligen Sportlerunterkünften wohnen heute Studenten. Alle Passanten auf der Straße und auf den Wegen vom Einkaufszentrum scheinen den Ort und seine Geschichte zu kennen. Das Haus ist mir unheimlich. Ich konzentriere mich, nachdem die Dreherlaubnis da ist und die Nachbarn informiert sind, lieber auf meine Rechercheausdrucke.

Morgen geht's zur großen FIFA-Pressekonferenz, so jedenfalls der Plan. Da sich die Newsredaktion nicht rechtzeitig akkreditiert hat (am besten wäre Oktober 2005 gewesen!), muss ich jetzt Energie, Charme und Dickköpfigkeit aufbieten, damit daraus noch was wird.

08.06.06
Die Zusage der FIFA ist da! Nur ins Stadion dürfen wir nicht rein. Müssen wir auch gar nicht, Bilder vom Spiel liefert uns und vielen anderen Sendern die European Broadcast Union (EBU). Ich bleibe am Schreibtisch. Jetzt bin ich in München – und verbringe meine Zeit doch nur vor Rechner und Telefon. Denn im Anschluss an den München-Dreh geht's nach Berlin für eine längere Reportage über ein Thema, das am Rande der WM wieder einmal hochgekommen ist: Prostitution.

Am Abend schneiden wir schon. Maxence Bilodeau, der neue Europa-Korrespondent von "Radio Canada" – er macht hier seine ersten Beiträge vom Kontinent – spricht seinen englischen Kommentar auf und sagt immer dann, wenn Originaltöne (O-Töne) reinkommen, die Zählerstände des gedrehten Materials an (Time Code). Dann zieht er sich zurück und schreibt an der französischen Fassung, die leicht von der englischen abweicht. Laurent Racine, Kameramann und Cutter, schneidet die Bilder des Beitrags auf die Worte. Die O-Töne montiert er als Erstes. Die Kanadier nennen sie "Clips". Damit sie nicht versehentlich beim Schnitt von anderen Bildern und Tönen überspielt werden können, erhalten ihre Time Codes eine elektronische Markierung, die sie schützt. Am Ende des Beitrags "schaut" der Korrespondent "raus", wie's auf Deutsch heißt, d. h. er gibt seinen Kommentar im On. Die Kanadier nennen das "faire un stand up".

Diese Arbeitsweise überrascht mich immer wieder, denn in Deutschland wird zunächst getextet, dann geschnitten, am Ende erst steht die Sprachaufnahme.

09.06.06
Am Vormittag wieder Recherche, am Nachmittag sind wir bei der lärmigen WM-Eröffnung, ich immer mit meinen Ohropax in den Lauschern (meine "boules qui est-ce?!" statt "boules quies" – ein Wortspiel: "Wer ist da?-Kügelchen" statt "Stille-Kügelchen"). Der Grund ist einfach erklärt: Das Publikum ist mit allerlei, auch gasbetriebenen, Lärmgerätschaften bewaffnet, die selbst in geschlossenen Räumen (U-Bahn!) zum Einsatz kommen. Mein zeitweise reduziertes Hörvermögen ist nicht ganz ohne, denn ich bin ja als Journalistin gebucht, da ist Informiertsein normalerweise alles. Im Dreierteam aber kein Problem, die Kollegen sprechen eben lauter, den Rest lese ich von den Lippen ab, auch ihre Frotzeleien. Aber sie verstehen, dass ich mein Gehör jetzt nicht riskieren werde, nachdem ich es alle Jahrzehnte vor Einbußen schützen konnte. Da ich oft ausschließlich als Dolmetscherin arbeite, ist es mein Kapital.

Abends wie gestern Schnitt im Hotel und Sendung von der EBU am Marienplatz aus, die Zeitverschiebung führt zu langen Tagen. In Münchens Mitte tanzen nachts um zwölf die jungen türkischstämmigen Männer, schwenken die Deutschlandfahne, tragen den Halbmond auf die Jacke genäht.

10.06.06
Heute wieder mit den Hühnern aufgestanden, Flug München–Berlin. Alles läuft dank etlicher Mails wie geschmiert, selbst die Sache mit dem Übergewicht: Wir reisen mit zehn Koffern und Taschen, die Waage zeigt 150 Kilo an.

Nachmittags sitze ich auf dem Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg, den Laptop auf dem Lichtkoffer, hier ist irgendwo ein WLAN offen. Alle Termine stehen so weit, ich schicke noch letzte Bestätigungen raus. Über meinem Kopf das vom Laub gestreute Licht, in Hörweite spielende Kinder, auf den Bürgersteigen chillende Cafégäste. Summer in the city. Wir drehen jetzt ein kurzes Feature über vier Jahre Prostitutionsgesetz und die Frage, was die Anerkennung der Prostitution als Beruf für die Betroffenen gebracht hat. Kameramann Laurent dreht zwischen zwei Interviews noch Schnittbilder. Motiv: typisch deutscher Biomarkt, auf dem die weiblichen Bobos (bohémiens bourgeois) ganz offen Birkenstock zum Minirock tragen.

"PRÈNS LAWA BERK" schreibt Maxence gerade als Ortsangabe und spätere Sprechhilfe auf.

11.06.06
Gestern noch ein Interview mit einer Domina – an ihrem Arbeitsplatz. Komischer Ort, mir war er im Vorfeld unheimlich; am Ende sind wir aber alle nur Menschen und es ging. Eine Berliner Altbauwohnung (auf dem Klingelschild "R. Geben"): sandfarbene Wände, tuscany style, abgeschliffene Dielen, Antiquitäten, Plastikefeu im Bad, Amphoren aus Ton, diverse Peitschen und Teppichklopfer, eine Massageliege mit Ringen an der Seite usw. Eine Art toskanisch-antikisierende Folterkeller-Altbauwohnung mit Akten des Münchener Symbolisten Franz von Stuck an den Wänden (schon komisch, wir waren ja eben noch in München ...).

Die Dame schon älteren Jahrgangs war einst eine Schönheit, das ist unübersehbar. Heute zeigt ihr Gesicht auch harte Züge über dem tiefen Dekolleté. Zwischendurch geht sie ins Nebengelass; durch die halboffene Tür sehe ich vor weißem Rauhfasertapete-Ikea-Ambiente: eine Glotze, in der ein Zeichentrickfilm läuft, sie steht auf einem Board über dem Schreibtisch, darunter Zeitschriftenständer mit Fachmagazinen und Schnittmusterbögen. Auf dem Schreibtisch eine Nähmaschine, davor ein Bügelbrett mit Bügeleisen (modern und gebrauchsfähig! Keine Deko!)

Zurück in den Toscana-Keller. Nach dem Interview steht Madame entschieden auf und sagt strahlend: "So, jetzt muss ich mal nach meinen Enkeln sehen!"
Komik entsteht, wir wussten es schon, aus Kontrasten.

12. und 13.06.06
An zwei Tagen haben wir mit vier Interviews das Thema rund gekriegt und weitere Bilder dazu sind im Kasten. Das Runde und das Eckige ... Gestern Vormittag waren wir noch in einem riesigen Bordell, das sich nach außen als Wellnessoase und FKK-Club präsentiert, und haben abends auf der Straße die frauenpolitische Sprecherin des Bundes deutscher Kriminalbeamter interviewt.

In der Drehpause im Hotel dann O-Töne "geschottet" (durchgesehen), eine hervorragende Dolmetscherübung: den bereits bekannten Text nochmal simultan dolmetschen (beim Dreh fasse ich die Antworten immer zusammen und achte darauf, dass das Material zum Schneiden taugt) und dann dolmetsche ich noch einmal und ein weiteres Mal, um die genauen Stellen für den Schnitt festzulegen ("cue in", "cue out"). Pro Interviewpartner wählen wir durchschnittlich vier "Clips" aus, von denen am Ende meist zwei im Beitrag bleiben.
Dabei ist es übrigens sehr wichtig, dass die Interviewten präsentabel daherkommen. In einem Bordell warteten wir in der Kantine auf Tatjana, eine Prostituierte, die wir interviewen sollten. Sie kam uns nur in Schläppchen und einem Handtuch entgegen, das etliches nicht verdeckte. Maxence bat sofort um Kleidung für die Dame. Beim Schotten verwarf er eine halbnahe Einstellung, in der er mit der inzwischen bekleideten Dame vor rotem Vorhang auf rotem Sofa sitzt. Zitat: "Mein Ruf ist der eines Schürzenjägers. Ich kultiviere ihn, aber Hunde die bellen, beißen nicht (grand parleur, petit faiseur). Nur: Mit diesen Bildern riskiere ich dann doch zu viel."
Und dann ergänzte er: "Schreib das ruhig auf! Deine deutsche Kollegin aus Kanada wird sich schieflachen."

Die Vorarbeit von vier langen Tagen, an denen ich mich auch noch in zwei andere Themen eingelesen habe, war ebenso gut investierte Zeit wie die zwei halben Recherchetage in München. Und wir hatten Glück mit unseren Gesprächspartnern. Nach zwei entspannten Drehtagen ist (fast) alles für das zehnminütige Feature abgedreht. Heute und morgen bleiben noch zwei Tage für ein Kurzinterview mit einer Zeugin, die sich gegen Zwangsprostitution äußert, Schnittbilder, Schotten der letzten O-Töne – und Tourismus. Während Maxence und ich die Interviews bearbeiten, dreht Laurent eigenständig.

Offiziell dürfen wir nicht so schnell gewesen sein, sonst wird nächstes Mal weniger Zeit veranschlagt. Beim ARD-Sender ORB und bei deutschen Arte-Auftragsproduktionen habe ich mein Handwerk gelernt, aus dieser Perspektive ist die Ruhe der Kanadier traumhaft. Deshalb hab ich "meinen" Kanadiern auch gleich das deutsche Wort "Feierabend" beigebracht. Der ist ihnen nämlich genauso heilig, wie er es in Deutschland vor der Globalisierung für die Mehrheit der Werktätigen war.

Weitere deutsche Worte, die mein Team von mir lernt: "Kaffee und Kuchen" – die dolmetschende Journalistin muss leicht essen, dafür regelmäßig – und "super"! Letzteres scheine ich recht häufig zu sagen, Laurent hat sich's "abgehört", nun denn ...

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